Lieber zwei Stunden Mathe, als gar keinen Schlaf

Es gibt wenige Sachen, die ich mir während meiner Schullaufbahn gemerkt habe, aber dieser Sponti-Spruch aus den achtziger Jahren hat sich stark in meinem Gedächtnis verankert.

Klar habe ich im Informatikunterricht vor 27 Jahren die Programmiersprachen Basic und Pascal gelernt, die heutzutage wahrscheinlich niemand mehr kennt. HTML und SEO hat es zu der Zeit sicher noch nicht gegeben, brauche ich heute regelmässig. Informationen veralten.
Klar habe ich im Musikunterricht die Fuge analysiert, aber das Spielen eines Instrumentes, das ich immer mal wieder in die Hand nehme, um meinen Jungs ein Gute-Nacht-Lied vorzspielen, habe ich mir selber beigebracht. Anderes Thema.
Klar habe ich im Sportunterricht mit Begeisterung Fußball und Basketball gespielt, aber Jonglieren mit Bällen ist erst danach dazu gekommen. Auch das brauche ich heute regelmässig.
Es ist sogar so, dass keine der Sachen, die ich in der Schule gelernt habe, mir in meinem jetzigen Beruf als Comedykellner etwas nutzen würden.

Comedykellner Francois Perdu in Aktion

 

Beruf und Berufung

Sicher ist das nicht der Beruf, den jeder ausüben könnte und mit Sicherheit ist der Bedarf daran auch nicht so riesig.
Aber es ist ein Beruf, der mir auf den Leib geschnitten ist, denn ich habe erst 20 Jahre nach Beenden meiner Schulkarriere festgestellt, was ich wirklich gut kann und wo meine Stärken liegen. Während meiner Zeit als Tischlergeselle habe ich nämlich gemerkt, dass ich für die gute Stimmung in der Werkstatt gesorgt habe. Über den Umweg als Klinkclown habe ich dann viele Clowns-Workshops bei namhaften Lehrern besucht, bis es irgendwann einmal Klick gemacht hat, und ich zu mir gesagt habe: »So, jetzt kannst Du auch ausserhalb der Kinderstationen von Krankenhäusern auftreten und mit Menschen in Kontakt treten und sie zum Lachen bringen!«
Es ist ein Job, von dem so mancher träumt, weil ich im Jahresdurchschnitt gesehen, nur einmal in der Woche ausser Haus bin. Abgesehen vom täglichen Beantworten von Mails und gelegentlichen Verbesserungs- und Werbemassnahmen an den Webseiten, die mir die Kunden beschaffen, hält sich die Arbeit in Grenzen. Und sie macht mir Spass!

Harmoniumspiel – Berufungssuche

Ich bin zutiefst überzeugt, dass jeder eine tolle und befriedigende Aufgabe haben könnte und ich wünsche es meinen Kindern ebenso.
Denn die Angestellten-Jobs werden durch den Einsatz von Maschinen und die weitere Verlagerung von Arbeit in kostengünstigere Länder immer weniger und jeder muss sich seine Arbeit, oder besser gesagt: seine Berufung, selber suchen.

Kanonenfutter

In der Schule wird auf die Ausbildung von persönlichen Vorlieben und Interessen keinen Wert gelegt und deswegen möchte ich die Verantwortung für die Talente meiner Jungs selber in die Hand nehmen.
Denn: bis zum Ende der Schulpflicht muss man fragen, wann man auf die Toilette gehen darf, und nach dem Abschluss soll man wissen, was man werden soll? Logisch, dass das nicht funktioniert.
Der staatliche Bildungsauftrag, aus Ihnen ordentliche Bürger zu machen, ist ein Vorwand.
Ein Vorwand, um Kreativität und Neugier zu unterdrücken, damit konforme, der Norm entsprechende Bürger aus dem System Schule ausgespuckt werden, die Kanonenfutter für das Getriebe der Wirtschaft sind. Wer als Lehrer im System nach Lösungen sucht, wird versetzt, krank oder leidet an Burn-Out. Mobbing, Ausgrenzung und andere Formen der Gewalt sind systembedingte Symptome, die nicht behandelbar sind.
Eskapismus wird denen vorgeworfen, die sich dem entgegenstellen und sich der nur in Deutschland herrschenden Schulpflicht entziehen wollen. Kann ich nicht genauso andersherum fragen: »Ist der Schulbesuch nicht auch Eskapismus vor dem eigentlichen Leben?«

Wer wirklich Angst davor hat, dass der Nachwuchs nicht materiell erfolgreich werden kann, sollte sich klar machen, dass es auch andere Wege nach oben gibt. Wenn man unternehmerisch tätig sein will, kann dem Jungunternehmer ein Studium eher im Weg stehen, nicht nur wegen der vergeudeten Zeit, sondern auch wegen dem falschen Mindset.

Utopia

Aber was macht eine lebens- und liebenswerte, freiheitlich-demokratische Gesellschaft aus?
Für mich sollten folgende Punkte auf jeden Fall dazugehören:

Empathie für Andere und Naturverbundenheit

an der Tafel

Die Konkurrenz ist der Erzfeind der Empathie. Der Mensch ist aber ein soziales Wesen, dass sich vor allem durch seine Kooperationsfähigkeit seine – langsam fragwürdige – Vorrangstellung in der Natur erobert hat. Deswegen sind Einzelbewertungen kontraproduktiv. Sie schüren die Konkurrenz und verhindern das, was uns als Spezies auszeichnet und so »weit« gebracht hat. Spätestens in der Schule werden der Vergleich und die Ausgrenzung von anderen zur Tagesordnung.
Sie ist deshalb also nicht der richtige Ort für das Beibehalten oder Wieder-Erlernen von sozialen Werten und überlässt die Aufgabe vorrangig den Eltern. Sie sieht ihre Aufgabe vor allem im Vermitteln von Wissen.
Leider ändert sich Wissen auch mal, besonders in der heutigen Zeit. Was gestern gelernt wurde, stimmt morgen schon nicht mehr (siehe oben).
Was wir aber alle wissen, ist, dass in der Schule gelerntes selten im Langzeitgedächtnis Spuren hinterlässt, denn es fehlen die Eigenmotivation und die Verknüpfung mit emotionalen Faktoren. Dieses Beispiel lässt sich, wenn man dem Neurobiologen Gerald Huether Glauben schenkt, auf alle anderen Fächer übertragen.

Arbeit bedeutet im ursprünglichen Sinn des Wortes Mühsal oder Plage

Die Germanen haben uns den Wortstamm der Arbeit vermacht und es offenbart sich bei genauerem Hinschauen, wieviel Wahrheit darin steckt.

Warum vergeudet ein großer Teil der Bevölkerung die meiste Zeit des Lebens damit, auf das Wochenende oder auf die Rente zu warten? Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Nach Beendigung meiner Lehre, wurde mir sehr schnell klar, dass ich einen 40 Stunden-Job nicht will, weil sich das Leben eigentlich woanders abspielt. Andererseits haben auch viele Selbständige den Wunsch, nicht weniger zu arbeiten, sondern der eigene Herr des Hamsterrads zu sein und im System von »alles oder nichts« gefangen zu sein. Warum widmen wir unsere Zeit nicht frühzeitig der Entdeckung und Vertiefung unserer Talente, um die Gesellschaft zu bereichern und etwas Sinnvolles zu tun, das dementsprechend gut honoriert wird?

Wie werden Höchstleistungen möglich?

Viel zu selten erreichen wir den Zustand des Flow, in dem besondere Leistungen erbracht werden können, denn dafür ist in der Schule oder im Kindergarten keine Zeit.
Diese Leistungen könnten körperlicher als auch geistiger Art sein und ähneln dem selbstvergessenen Spiel von Kindern, die vollkommen selbstversunken und emsig bei der Sache sind. Im Erwachsenenalter kann man den Zustand unter Beachtung einiger Punkte leicht herstellen.

10 Tipps für mehr Flow

Suchen Sie sich Anforderungen, die Ihren Fähigkeiten entsprechen.
Legen Sie bei heraus­fordernden Tätig­keiten immer wieder Pausen ein.
Setzen Sie sich klare, erreichbare Ziele, und holen Sie sich regelmäßig Feedback.
Schaffen Sie Handlungsspielräume, etwa indem Sie selbst entscheiden, wann und wie Sie eine Aufgabe erledigen.
Machen Sie sich die Bedeutung Ihrer Aufgaben bewusst.
Holen Sie sich bei schwierigen Problemen Unterstützung von anderen.
Bearbeiten Sie wichtige Aufgaben morgens, zirka eine Stunde nach dem Aufstehen.
Aktivieren Sie sich mit leichter Bewegung, etwa einem Spaziergang.
Wenn Sie gestresst sind, atmen Sie langsam aus oder machen Sie eine Entspannungsübung.
Sorgen Sie für Entspannung am Abend, um effektiv abzu­schalten.

 

Sind das Bedingungen, die die Schule jemals bieten kann?

Selbstwirksamkeit

Die Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen, ist explizit in den demokratischen Sudbury-Schulen vorgesehen und verankert. Aber denen weht, wie allen anderen »Freien Schulen« auch, ein kalter Wind ins Gesicht.
Die Beteiligung von Schülern an der Mitgestaltung der Schulpolitik und der Auswahl der Lehrer wäre eine Option, um die Selbstwirksamkeit auszuprobieren und unserem Grundgesetz die Ehre zu erweisen (Alle Macht geht vom Volke aus). Aber es widerspricht dem »freiheitlich demokratischen« System, was sich leider nur so nennt und demokratische Schulen schliesst und den Betrieb versagt, obwohl diese den Namen verdient hätten.

Fazit

Offensichtlich ist die Institution Schule und auch nicht ihre kleine Schwester, der Kindergarten den gestellten Aufgaben gewachsen.

Bei den Diskussionen, die oft sehr emotional geführt werden, geht es meiner Meinung nach oft darum, dass Kritikern des Freilernens der eigene entbehrungsvolle Lebensentwurf unter die Nase gerieben wird. Freilerner und Ihre Eltern sind da per se ein Dorn im Auge, denn sie leben vor, dass das Leben ausserhalb festgelegter Zeiten nicht erst mit Anfang des Rentenalters beginnt, sondern von klein auf verwirklicht werden kann.
Gleichzeitig kommt da auch die Initiative des bedingungslosen Grundeinkommens ins Spiel, die in die selbe Kerbe schlägt: Was passiert mit der Institution Schule, wenn für ein Einkommen danach einfach gesorgt wäre?

Wir möchten unsere Kinder nicht in die Schule schicken, solange diese nicht dem ursprünglichen Sinn des Wortes einigermassen gerecht wird:

Schule, Bedeutung:

aus griech.

schole „Muße, freie Zeit, Arbeitsruhe“, übertr. „Beschäftigung während der Muße, Erzeugnisse der Mußestunden, Vorträge, Vorlesungen, gelehrte Gespräche“

Wie ist Deine Meinung: Ist eine Reform der Schule möglich? Kannst Du Dir eine Gesellschaft ohne Schule vorstellen?
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2 Antworten

  1. Franziska sagt:

    Ein wunderbarer Artikel, der mich noch vor dem Frühstück motiviert, weiter an unserem „Ausstieg“ zu arbeiten. Danke!

    • MartinPi sagt:

      Vielen Dank Franziska, es ist so schön zu hören, dass überall sich Menschen mit dem Thema Freilernen beschäftigen. Ich hoffe, es dauert nicht mehr lange, dass die Kritische Masse erreicht ist, damit eine Veränderung zu mehr Freiheit auch in Deutschland geschehen kann.

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